Dass die Kinder dieser Zeit den Umgang mit digitalen Medien lernen müssen, steht außer Frage.
Doch was womit in welchem Alter - darüber scheiden sich die Geister.
Oma findet, der folgende Beitrag bringt es ganz gut auf den Punkt:
GERTRAUD TEUCHERT-NOODTDie digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft
Niemals beginnt der Bauherr seinen Hausbau mit dem Dach. Warum nur glauben viele Pädagogen, die kindliche Entwicklung könne beschleunigt werden, indem man deren Fundament einfach weglässt? Mit den Grundsätzen der Evolution erklärt Gertraut Teuchert-Noodt, emeritierte Professorin der Neurobiologie, anschaulich, warum Eltern und Lehrer sich vehement gegen frühkindliche Nutzung von Bildschirm-Medien wehren sollten – damit es nicht zu Sucht, Lernstörungen, Aggressivität oder autistischen Störungen bei den Kleinen kommt.
Wie die gesamte Natur einen Bauplan hat, der sich gemächlich evolutionär entwickelt, liegt auch der frühkindlichen Entwicklung des Gehirns ein genauer Bau- und Entwicklungsplan zugrunde, der immer gleichen Regeln folgt – und sich in der Regel auch nicht ändern oder beschleunigen lässt. Folgen wir dem Bild des Hausbaus, besitzt bereits das Baby eine Art Rohbau des Gehirns. Aber Fenster, Türen und Treppen fehlen noch, und auch die Strom-, Gas- und Wasserleitungen müssen noch verlegt und verschaltet werden. Das dauert gewöhnlich fast 18 Jahre lang. Verstehen sich Eltern, Erzieher und Lehrer als kluge Bauherren dieser Mobilie, so untermauern sie die Entwicklung ihrer Zöglinge mit genau den Materialien, die die Natur dafür vorgesehen hat.
KÖRPERLICHE BEWEGUNG ALS BAU- STOFF DER GEHIRNREIFUNG – ODER CHAOS AUF DER BAUSTELLE
Es sind nicht die kognitiven Leistungen, sondern die körperlichen Bewegungen eines Kleinkindes, die bestimmen, wie die ersten Funktionsmodule des Klein- und Großhirns reifen. Anderes wäre logisch auch kaum erklärbar, denn das Aufwachsen und Überleben in steinzeitlicher Steppe oder frühzeitlichem Urwald verlangte kaum mediale, dafür aber umso mehr körperliche Fähigkeiten. Nach wie vor also steuert das Kleinhirn die Motorik und ist verantwortlich für das Erlernen von Bewegungsabläufen. Dabei sind die drei Schaltebenen der Kleinhirn-Module exakt so angeordnet wie die drei Bogengänge des Gleichgewichtsorgans, sie stehen wie im Innenohr senkrecht aufeinander. Wenn motorische Regelkreise – etwa der Purzelbaum beim Kleinkind – reifen, dann verankern sich zusätzlich auch kognitive Funktionen im Gehirn. Denn das Kleinhirn und die im Gehirn nachgeschaltete motorische Großhirnrinde regen über vielfältige Bewegungen Denkleistungen an. Auch wir Erwachsenen spüren das, wenn wir bei einem Spaziergang an der frischen Luft schneller auf neue Ideen kommen. Kleine Kinder bewegen sich beim Spielen dreidimensional: Und genau dabei – und nur dabei – programmieren sich die Raumkoordinaten buchstäblich in die reifenden Module der Hirnrinde ein.
Deshalb können sich Bewegungen, Spielen und Toben wie auf einer CD im Gehirn des Kindes einbrennen. Fehlt diese räumliche Bewegung und wird sie etwa durch Tablet-Wischen ersetzt, so fehlt dem Gehirn quasi der Baustoff für den Weiterbau des Denkapparates – die Bautätigkeit erlahmt.
Und nicht nur das, wie wir später noch sehen werden. Falsche Baustoffe in der Gehirnentwicklung können Sucht, Angst und lebenslang geminderte Lern- und Denkfähigkeiten hervorrufen. Deshalb ist es auch in der Wissenschaft unumstritten, dass sich körperliche Aktivitäten des Kindes sofort in den reifenden Rindenfeldern des Großhirns niederschlagen, wobei sie Struktur und Ausdehnung der neuronalen Netze beeinflussen. Dazu müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Kinder purzeln, klettern und tollen herum – genau in der kritischen Phase, in der sich zeitgleich modulare Groß- und Kleinhirnfelder funktional organisieren. Dann fällt es Schulkindern später leicht, die vorgebahnten feinmotorischen Rindenfelder zum Schreiben und Lesen einzusetzen – und im jugendlichen Alter mit digitalen Geräten sinnvoll umzugehen.
VOM GREIFEN ZUM BE-GREIFEN, ZU MATHEMATISCHEN FÄHIGKEITEN
Doch dieser kognitive Mechanismus greift noch viel tiefer: Aus dem kindlichen Greifen erwächst das Begreifen im Jugendalter. Daniel Ansari hat 2003 herausgefunden, dass sich ein räumliches Verständnis, die Welt zu begreifen unmittelbar in mathematische Fähigkeiten umsetzt: Wir lernen zum Beispiel, Zahlen auf einem Zahlenstrahl anzuordnen und wir sprechen in der Geometrie von Würfeln und Quadern.
Wer also kleinen Kindern die Bewegung vorenthält – warum auch immer – der sorgt für Chaos auf der Baustelle des kindlichen Hirngerüsts, denn die gesamte Kindheit ist gezeichnet von kritischen Phasen, in denen die Reifung von sensomotorischen und assoziativen Funktionssystemen extrem stark von der Umwelt beeinflusst wird. Bildschirm-Medien, ganz gleich ob Smartphones, Tablets oder das gute alte Fernsehgerät, schränken automatisch das Bewegungs- verhalten der Kinder ein, weil sie vielfach Kinder vom Spielen in Wäldern, Parks oder auf Sportplätzen abhalten. Das beeinträchtigt in diesem Lebensabschnitt die nötige Hirnreifung, die eine sehr aktive und dynamische Phase der Entwicklung darstellt. Wischen und tippen Kinder dagegen auf Tablets, schadet das auch der Reifung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Die flüchtigen Händchen führen keine differenzierten, feinmotorischen Bewegungen aus. Das unterminiert die Vernetzung im Gehirn – und untergräbt langfristig die Entwicklung geistiger Fähigkeiten.
WARUM TABLETS IN DER NATUR KINDERN NICHTS NÜTZEN
An dieser Stelle wenden Befürworter des frühkindlichen digitalen Lernens gerne ein, es gehe doch beides, reale und virtuelle Welterfahrung zugleich. Das ist zwar richtig, doch funktioniert dies erst ab einem jugendlichen Alter, wenn sich die reale Welt in die Nervennetze eingeschrieben hat. Betrachtet man einmal die Zeiten, die schon kleine Kinder vor dem Bildschirm verbringen, so fressen sie zunehmend mehr Lebenszeit, also Zeit, die für die natürliche und evolutionär vorbestimmte Tätigkeit des Spielens und Tollens fehlt – denn anders als bei Erwachsenen hat der Tag der Kinder eben wirklich nur 24 Stunden. So ergänzen die Bildschirmzeiten die reale Erfahrung in der Natur nicht – sie ersetzen sie in einem wachsenden Umfang. Anstelle des planvollen Baus einer meisterhaften Architektur werden den Kindern einfach bunte und konturlose Fertighäuser vorgesetzt. Wohnen ist möglich – aber Leben?
Laut KIM-Studie 2014 kommen Acht- bis Neunjährige bereits auf eine tägliche Bildschirmzeit von rund 2,5 Stunden; bei Zehn- bis Elfjährigen sind es schon rund 3,5 Stunden. Dabei liegt das Fern- sehen an der Spitze – und wir sprechen noch gar nicht von den Intensivnutzern, die in höheren Altersgruppen bis zu zehn Stunden am Tag vor dem Bild- schirm verharren.
DAS FEUERWERK BUNTER BILDSCHIRM BILDER KANN SUCHTPOTENZIAL ENTFACHEN
Digitale Medien haben für kleine Kinder ein hohes Suchtpotenzial. Ihr rasantes Feuerwerk aus Videos und bunten Animationen führt zu einem Reizbombardement, das gnadenlos auf die Verrechnung von Raumerfahrungen im Hippokampus niedergeht. Da sein Schaltsystem unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeitet, kann es sich nicht dagegen wehren. So überdreht sein Belohnungssystem und kann Suchtverhalten auslösen. Glücksgefühle entstehen – und verlangen nach immer mehr –, wenn immer mehr mediale Reize auf das Kind ein- strömen. Immerhin gelten bereits jetzt – wenig beachtet – fünf Millionen Erwachsene im deutschsprachigen Raum als computer-/ oder spielsüchtig.
Auf unvorbereitete Kleinkinder aber feuern Bildermedien unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen ab, die das Stirnhirn in dem Alter massiv überfordern. In jungen Jahren können so bestimmte Botenstoffe in den Modulen des Stirnhirns zu schnell und unzulänglich reifen. Wissenschaftler bezeichnen dies als Notreife. Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn aufgrund sehr langsam einreifender Transmitter wie Dopamin nicht im Ansatz in der Lage ist, kognitive Konflikte ausreichend zu kontrollieren.
Der Hintergrund für diesen kognitiven Super-GAU: Das Stirnhirn ist eine übergeordnete Instanz – die Drehscheibe für alle Teilleistungen, die aus vielen Bereichen des Gehirns und des übrigen Körpers einlaufen. Es entsteht unter allen Funktionssystemen zuletzt, aus zwei Gründen: Der gesamte Bau des Gehirns folgt einem klar festgelegten Zeit-Konzept, unserem Bauplan, und alle Hirnfunktionen unterliegen einer hierarchischen Gliederung. Die Natur arbeitet – aus evolutionären Erfahrungen – eben klug wie ein Baumeister, der auch den Dachstuhl als Letztes baut.
SUCHT, ANGST ODER KOGNITIVE FEHLLEISTUNGEN
Für unsere Überlegungen ist jetzt entscheidend: Das Stirnhirn steuert drei wesentliche Instanzen mit exekutiven Funktionen, die alle anderen Bereiche des Gehirns beherrschen. Werden diese Instanzen beeinträchtigt, so drohen Sucht, Angst oder kognitive Fehlleistungen.
Eine dieser Instanzen regelt die Konfliktbewältigung und kontrolliert das Belohnungssystem. Versagt diese Instanz, so will das Gehirn von Substanzen oder Reizen immer mehr – es kommt zur Sucht. Eine weitere Instanz zur Angstbewältigung überwacht den Gehirnbereich der Amygdala. Wenn sie den Geist aufgibt, heißt die Antwort: Angstsyndrom. Und eine dritte Instanz passt auf die assoziativen Rindenfelder im Großhirn auf, dort, wo auch die Bewegungsabläufe und das Langzeitgedächtnis eingebrannt sind. Die Aufgabe dieser Instanz besteht darin, Wahrnehmungen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen und als Informationen zu speichern. Versagt diese Instanz, heißt die Antwort nicht selten: Kontrollverlust sowie Konzentrations-, Merk- / Denkschwäche, autistische oder autistoide Störungen oder Aggressionen. (Teuchert-Noodt, Schlotmann 2012).
DAUERKINO STATT GEHIRNENTWICKLUNG
Diese gravierenden Störungen können bei Kindern durch Stirnhirnversagen auftreten, wenn viele bunte Bilder dauerhaft den Hippokampus und das Belohnungssystem überdrehen lassen. Das schadet der Kommunikation mit dem Stirnhirn über den großen limibischen Schaltkreis, der durch das Cingulum und die aufsteigende Dopaminbahn getragen wird. So können sich seine exekutiven Funktionen gerade in der Phase ihrer Reifung nicht entfalten. Bildschirm-Medien diktieren eine Beschleunigung und Überreizung, unter der das kindliche Gehirn leidet. Das vom Hippokampus gesteuerte Kurzzeitgedächtnis und das aus dem Stirnhirn gesteuerte Arbeitsgedächtnis können nicht angemessen arbeiten. Die steigende Zahl sprach- und lerngestörter sowie autistoider Kinder ist ganz sicher ein Zeichen für dieses Phänomen – daher sind das Fernsehen und digitale Medien in diesem Alter Gift für eine gesunde Gehirnentwicklung.
Übrigens: Der Grundstein für den Bau des Stirnhirns wird bereits im ersten Lebensjahr gelegt. Der Rohbau ist aber erst im Alter von 18 – 20 Jahren fertig. Genetisch sind Babys und Kleinkinder auf den Umgang mit einer natürlichen Umwelt programmiert („Urwald-Raum-Zeit“). Daher sollten wir sie völlig von Bildschirmen fernhalten.
OHNE COMPUTER INS DIGITALE ZEITALTER!
„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“ Diese These von Lembke und Leipner wirkt überhaupt nicht paradox, wenn wir eine Brücke zur Neurobiologie schlagen. Wer den Einfluss digitaler Medien auf Kinder reduziert, fördert ihre Gehirnentwicklung, denn die späteren Jugendlichen und Erwachsenen brauchen hohe kognitive Fähigkeiten, um digitale Herausforderungen zu bewältigen. Auch die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder erst ab etwa 12 bis 14 Jahren langsam in der Lage sind, ihre vollen kognitiven Potenziale zu entfalten. Davor ist eine gesunde sensomotorische Entwicklung nötig, die durch den Ruf nach einer „frühen Medienkompetenz“ gefährdet ist. Wir brauchen dringend digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen. Erst dann haben die weiterführenden Schulen eine Chance, bei Jugendlichen eine echte mediale Kompetenz aufzubauen – auch im Umgang mit digitalen Medien.
SPIELRÄUME FÜR KINDER
Die Neurobiologie gibt zwei wichtige Antworten darauf, welche Spielräume Kinder zwischen der Geburt und etwa dem 12. bis 14. Lebensjahr haben:
Antwort 1: Wer Kinder durch Bildschirm-Medien fesselt, schränkt erheblich ihre Spielräume ein. Und das ist wörtlich zu verstehen: In der Kindesentwicklung zählen besonders sensomotorische Erfahrungen. Kinder sollten „mit Händen und Fuß̈en“ die Welt erobern und sie mit allen Sinnen begreifen! Denn eine Vielzahl motorischer Aktivitäten ist elementar mit der Gehirnentwicklung verknüpft. In jedem Lehrbuch der Neurobiologie ist zu lesen: Spätere intellektuelle Spielräume brauchen reale Spielräume in früher Kindheit. Sobald Kinder stundenlang vor Bildschirmen erstarren, schadet das der Reifung von Nervennetzen für kognitive Funktionen. Das ist irreparabel, denn „die Karawane zieht weiter“.
Antwort 2: Bildschirm-Medien traktieren Kinder mit einem Trommelfeuer an Reizen. Dieses mediale Bombardement überfordert den Hippokampus und das von ihm gesteuerte Belohnungssystem. So kann sich das Stirnhirn nicht gut entwickeln, denn es steht über dieser Reizkette. Die Folge: Eine frühkindliche Notreifung von Stirnhirn und Hippokampus kann zu schweren Störungen im kognitiven Bereich führen, etwa zu Lernstörungen, autistoiden Entwicklungsstörungen und /oder Sucht.
Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt leitete den Bereich Neuroanatomie/Humanbiologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Biologie. Spezielle Forschungsgebiete: unter anderem quantitative Immunhistochemie von Neurotransmittern und neuronale Netzwerke in der Entwicklung psycho-kognitiver Hirnfunktionen. In ihren Vorträgen setzt sie sich kritisch mit der Wirkung digitaler Medien auf das Gehirn auseinander. Der Text entstand unter Mitwirkung von Ingo Leipner.
Das Original finden Sie unter folgendem Link:
https://gartenderphantasie.de/ein-bauherr-beginnt-auch-nicht-mit-dem-dach/
Doch was womit in welchem Alter - darüber scheiden sich die Geister.
Oma findet, der folgende Beitrag bringt es ganz gut auf den Punkt:
GERTRAUD TEUCHERT-NOODTDie digitale Revolution verbaut unseren Kindern die Zukunft
Niemals beginnt der Bauherr seinen Hausbau mit dem Dach. Warum nur glauben viele Pädagogen, die kindliche Entwicklung könne beschleunigt werden, indem man deren Fundament einfach weglässt? Mit den Grundsätzen der Evolution erklärt Gertraut Teuchert-Noodt, emeritierte Professorin der Neurobiologie, anschaulich, warum Eltern und Lehrer sich vehement gegen frühkindliche Nutzung von Bildschirm-Medien wehren sollten – damit es nicht zu Sucht, Lernstörungen, Aggressivität oder autistischen Störungen bei den Kleinen kommt.
Wie die gesamte Natur einen Bauplan hat, der sich gemächlich evolutionär entwickelt, liegt auch der frühkindlichen Entwicklung des Gehirns ein genauer Bau- und Entwicklungsplan zugrunde, der immer gleichen Regeln folgt – und sich in der Regel auch nicht ändern oder beschleunigen lässt. Folgen wir dem Bild des Hausbaus, besitzt bereits das Baby eine Art Rohbau des Gehirns. Aber Fenster, Türen und Treppen fehlen noch, und auch die Strom-, Gas- und Wasserleitungen müssen noch verlegt und verschaltet werden. Das dauert gewöhnlich fast 18 Jahre lang. Verstehen sich Eltern, Erzieher und Lehrer als kluge Bauherren dieser Mobilie, so untermauern sie die Entwicklung ihrer Zöglinge mit genau den Materialien, die die Natur dafür vorgesehen hat.
KÖRPERLICHE BEWEGUNG ALS BAU- STOFF DER GEHIRNREIFUNG – ODER CHAOS AUF DER BAUSTELLE
Es sind nicht die kognitiven Leistungen, sondern die körperlichen Bewegungen eines Kleinkindes, die bestimmen, wie die ersten Funktionsmodule des Klein- und Großhirns reifen. Anderes wäre logisch auch kaum erklärbar, denn das Aufwachsen und Überleben in steinzeitlicher Steppe oder frühzeitlichem Urwald verlangte kaum mediale, dafür aber umso mehr körperliche Fähigkeiten. Nach wie vor also steuert das Kleinhirn die Motorik und ist verantwortlich für das Erlernen von Bewegungsabläufen. Dabei sind die drei Schaltebenen der Kleinhirn-Module exakt so angeordnet wie die drei Bogengänge des Gleichgewichtsorgans, sie stehen wie im Innenohr senkrecht aufeinander. Wenn motorische Regelkreise – etwa der Purzelbaum beim Kleinkind – reifen, dann verankern sich zusätzlich auch kognitive Funktionen im Gehirn. Denn das Kleinhirn und die im Gehirn nachgeschaltete motorische Großhirnrinde regen über vielfältige Bewegungen Denkleistungen an. Auch wir Erwachsenen spüren das, wenn wir bei einem Spaziergang an der frischen Luft schneller auf neue Ideen kommen. Kleine Kinder bewegen sich beim Spielen dreidimensional: Und genau dabei – und nur dabei – programmieren sich die Raumkoordinaten buchstäblich in die reifenden Module der Hirnrinde ein.
Deshalb können sich Bewegungen, Spielen und Toben wie auf einer CD im Gehirn des Kindes einbrennen. Fehlt diese räumliche Bewegung und wird sie etwa durch Tablet-Wischen ersetzt, so fehlt dem Gehirn quasi der Baustoff für den Weiterbau des Denkapparates – die Bautätigkeit erlahmt.
Und nicht nur das, wie wir später noch sehen werden. Falsche Baustoffe in der Gehirnentwicklung können Sucht, Angst und lebenslang geminderte Lern- und Denkfähigkeiten hervorrufen. Deshalb ist es auch in der Wissenschaft unumstritten, dass sich körperliche Aktivitäten des Kindes sofort in den reifenden Rindenfeldern des Großhirns niederschlagen, wobei sie Struktur und Ausdehnung der neuronalen Netze beeinflussen. Dazu müssen kleine Kinder differenzierte körperliche Aktivitäten ausüben. Sie sollten ihre Hände verwenden, um Bilder zu malen, Knetfiguren zu formen oder zu basteln. Kinder purzeln, klettern und tollen herum – genau in der kritischen Phase, in der sich zeitgleich modulare Groß- und Kleinhirnfelder funktional organisieren. Dann fällt es Schulkindern später leicht, die vorgebahnten feinmotorischen Rindenfelder zum Schreiben und Lesen einzusetzen – und im jugendlichen Alter mit digitalen Geräten sinnvoll umzugehen.
VOM GREIFEN ZUM BE-GREIFEN, ZU MATHEMATISCHEN FÄHIGKEITEN
Doch dieser kognitive Mechanismus greift noch viel tiefer: Aus dem kindlichen Greifen erwächst das Begreifen im Jugendalter. Daniel Ansari hat 2003 herausgefunden, dass sich ein räumliches Verständnis, die Welt zu begreifen unmittelbar in mathematische Fähigkeiten umsetzt: Wir lernen zum Beispiel, Zahlen auf einem Zahlenstrahl anzuordnen und wir sprechen in der Geometrie von Würfeln und Quadern.
Wer also kleinen Kindern die Bewegung vorenthält – warum auch immer – der sorgt für Chaos auf der Baustelle des kindlichen Hirngerüsts, denn die gesamte Kindheit ist gezeichnet von kritischen Phasen, in denen die Reifung von sensomotorischen und assoziativen Funktionssystemen extrem stark von der Umwelt beeinflusst wird. Bildschirm-Medien, ganz gleich ob Smartphones, Tablets oder das gute alte Fernsehgerät, schränken automatisch das Bewegungs- verhalten der Kinder ein, weil sie vielfach Kinder vom Spielen in Wäldern, Parks oder auf Sportplätzen abhalten. Das beeinträchtigt in diesem Lebensabschnitt die nötige Hirnreifung, die eine sehr aktive und dynamische Phase der Entwicklung darstellt. Wischen und tippen Kinder dagegen auf Tablets, schadet das auch der Reifung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Die flüchtigen Händchen führen keine differenzierten, feinmotorischen Bewegungen aus. Das unterminiert die Vernetzung im Gehirn – und untergräbt langfristig die Entwicklung geistiger Fähigkeiten.
WARUM TABLETS IN DER NATUR KINDERN NICHTS NÜTZEN
An dieser Stelle wenden Befürworter des frühkindlichen digitalen Lernens gerne ein, es gehe doch beides, reale und virtuelle Welterfahrung zugleich. Das ist zwar richtig, doch funktioniert dies erst ab einem jugendlichen Alter, wenn sich die reale Welt in die Nervennetze eingeschrieben hat. Betrachtet man einmal die Zeiten, die schon kleine Kinder vor dem Bildschirm verbringen, so fressen sie zunehmend mehr Lebenszeit, also Zeit, die für die natürliche und evolutionär vorbestimmte Tätigkeit des Spielens und Tollens fehlt – denn anders als bei Erwachsenen hat der Tag der Kinder eben wirklich nur 24 Stunden. So ergänzen die Bildschirmzeiten die reale Erfahrung in der Natur nicht – sie ersetzen sie in einem wachsenden Umfang. Anstelle des planvollen Baus einer meisterhaften Architektur werden den Kindern einfach bunte und konturlose Fertighäuser vorgesetzt. Wohnen ist möglich – aber Leben?
Laut KIM-Studie 2014 kommen Acht- bis Neunjährige bereits auf eine tägliche Bildschirmzeit von rund 2,5 Stunden; bei Zehn- bis Elfjährigen sind es schon rund 3,5 Stunden. Dabei liegt das Fern- sehen an der Spitze – und wir sprechen noch gar nicht von den Intensivnutzern, die in höheren Altersgruppen bis zu zehn Stunden am Tag vor dem Bild- schirm verharren.
DAS FEUERWERK BUNTER BILDSCHIRM BILDER KANN SUCHTPOTENZIAL ENTFACHEN
Digitale Medien haben für kleine Kinder ein hohes Suchtpotenzial. Ihr rasantes Feuerwerk aus Videos und bunten Animationen führt zu einem Reizbombardement, das gnadenlos auf die Verrechnung von Raumerfahrungen im Hippokampus niedergeht. Da sein Schaltsystem unterhalb der Bewusstseinsschwelle arbeitet, kann es sich nicht dagegen wehren. So überdreht sein Belohnungssystem und kann Suchtverhalten auslösen. Glücksgefühle entstehen – und verlangen nach immer mehr –, wenn immer mehr mediale Reize auf das Kind ein- strömen. Immerhin gelten bereits jetzt – wenig beachtet – fünf Millionen Erwachsene im deutschsprachigen Raum als computer-/ oder spielsüchtig.
Auf unvorbereitete Kleinkinder aber feuern Bildermedien unaufhaltsam pathologisch veränderte Frequenzen ab, die das Stirnhirn in dem Alter massiv überfordern. In jungen Jahren können so bestimmte Botenstoffe in den Modulen des Stirnhirns zu schnell und unzulänglich reifen. Wissenschaftler bezeichnen dies als Notreife. Das alles geschieht in einem Alter, in dem das Stirnhirn aufgrund sehr langsam einreifender Transmitter wie Dopamin nicht im Ansatz in der Lage ist, kognitive Konflikte ausreichend zu kontrollieren.
Der Hintergrund für diesen kognitiven Super-GAU: Das Stirnhirn ist eine übergeordnete Instanz – die Drehscheibe für alle Teilleistungen, die aus vielen Bereichen des Gehirns und des übrigen Körpers einlaufen. Es entsteht unter allen Funktionssystemen zuletzt, aus zwei Gründen: Der gesamte Bau des Gehirns folgt einem klar festgelegten Zeit-Konzept, unserem Bauplan, und alle Hirnfunktionen unterliegen einer hierarchischen Gliederung. Die Natur arbeitet – aus evolutionären Erfahrungen – eben klug wie ein Baumeister, der auch den Dachstuhl als Letztes baut.
SUCHT, ANGST ODER KOGNITIVE FEHLLEISTUNGEN
Für unsere Überlegungen ist jetzt entscheidend: Das Stirnhirn steuert drei wesentliche Instanzen mit exekutiven Funktionen, die alle anderen Bereiche des Gehirns beherrschen. Werden diese Instanzen beeinträchtigt, so drohen Sucht, Angst oder kognitive Fehlleistungen.
Eine dieser Instanzen regelt die Konfliktbewältigung und kontrolliert das Belohnungssystem. Versagt diese Instanz, so will das Gehirn von Substanzen oder Reizen immer mehr – es kommt zur Sucht. Eine weitere Instanz zur Angstbewältigung überwacht den Gehirnbereich der Amygdala. Wenn sie den Geist aufgibt, heißt die Antwort: Angstsyndrom. Und eine dritte Instanz passt auf die assoziativen Rindenfelder im Großhirn auf, dort, wo auch die Bewegungsabläufe und das Langzeitgedächtnis eingebrannt sind. Die Aufgabe dieser Instanz besteht darin, Wahrnehmungen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen und als Informationen zu speichern. Versagt diese Instanz, heißt die Antwort nicht selten: Kontrollverlust sowie Konzentrations-, Merk- / Denkschwäche, autistische oder autistoide Störungen oder Aggressionen. (Teuchert-Noodt, Schlotmann 2012).
DAUERKINO STATT GEHIRNENTWICKLUNG
Diese gravierenden Störungen können bei Kindern durch Stirnhirnversagen auftreten, wenn viele bunte Bilder dauerhaft den Hippokampus und das Belohnungssystem überdrehen lassen. Das schadet der Kommunikation mit dem Stirnhirn über den großen limibischen Schaltkreis, der durch das Cingulum und die aufsteigende Dopaminbahn getragen wird. So können sich seine exekutiven Funktionen gerade in der Phase ihrer Reifung nicht entfalten. Bildschirm-Medien diktieren eine Beschleunigung und Überreizung, unter der das kindliche Gehirn leidet. Das vom Hippokampus gesteuerte Kurzzeitgedächtnis und das aus dem Stirnhirn gesteuerte Arbeitsgedächtnis können nicht angemessen arbeiten. Die steigende Zahl sprach- und lerngestörter sowie autistoider Kinder ist ganz sicher ein Zeichen für dieses Phänomen – daher sind das Fernsehen und digitale Medien in diesem Alter Gift für eine gesunde Gehirnentwicklung.
Übrigens: Der Grundstein für den Bau des Stirnhirns wird bereits im ersten Lebensjahr gelegt. Der Rohbau ist aber erst im Alter von 18 – 20 Jahren fertig. Genetisch sind Babys und Kleinkinder auf den Umgang mit einer natürlichen Umwelt programmiert („Urwald-Raum-Zeit“). Daher sollten wir sie völlig von Bildschirmen fernhalten.
OHNE COMPUTER INS DIGITALE ZEITALTER!
„Eine Kindheit ohne Computer ist der beste Start ins digitale Zeitalter.“ Diese These von Lembke und Leipner wirkt überhaupt nicht paradox, wenn wir eine Brücke zur Neurobiologie schlagen. Wer den Einfluss digitaler Medien auf Kinder reduziert, fördert ihre Gehirnentwicklung, denn die späteren Jugendlichen und Erwachsenen brauchen hohe kognitive Fähigkeiten, um digitale Herausforderungen zu bewältigen. Auch die Entwicklungspsychologie zeigt, dass Kinder erst ab etwa 12 bis 14 Jahren langsam in der Lage sind, ihre vollen kognitiven Potenziale zu entfalten. Davor ist eine gesunde sensomotorische Entwicklung nötig, die durch den Ruf nach einer „frühen Medienkompetenz“ gefährdet ist. Wir brauchen dringend digitalfreie Oasen in Kindergärten und Grundschulen. Erst dann haben die weiterführenden Schulen eine Chance, bei Jugendlichen eine echte mediale Kompetenz aufzubauen – auch im Umgang mit digitalen Medien.
SPIELRÄUME FÜR KINDER
Die Neurobiologie gibt zwei wichtige Antworten darauf, welche Spielräume Kinder zwischen der Geburt und etwa dem 12. bis 14. Lebensjahr haben:
Antwort 1: Wer Kinder durch Bildschirm-Medien fesselt, schränkt erheblich ihre Spielräume ein. Und das ist wörtlich zu verstehen: In der Kindesentwicklung zählen besonders sensomotorische Erfahrungen. Kinder sollten „mit Händen und Fuß̈en“ die Welt erobern und sie mit allen Sinnen begreifen! Denn eine Vielzahl motorischer Aktivitäten ist elementar mit der Gehirnentwicklung verknüpft. In jedem Lehrbuch der Neurobiologie ist zu lesen: Spätere intellektuelle Spielräume brauchen reale Spielräume in früher Kindheit. Sobald Kinder stundenlang vor Bildschirmen erstarren, schadet das der Reifung von Nervennetzen für kognitive Funktionen. Das ist irreparabel, denn „die Karawane zieht weiter“.
Antwort 2: Bildschirm-Medien traktieren Kinder mit einem Trommelfeuer an Reizen. Dieses mediale Bombardement überfordert den Hippokampus und das von ihm gesteuerte Belohnungssystem. So kann sich das Stirnhirn nicht gut entwickeln, denn es steht über dieser Reizkette. Die Folge: Eine frühkindliche Notreifung von Stirnhirn und Hippokampus kann zu schweren Störungen im kognitiven Bereich führen, etwa zu Lernstörungen, autistoiden Entwicklungsstörungen und /oder Sucht.
Prof. Dr. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt leitete den Bereich Neuroanatomie/Humanbiologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Biologie. Spezielle Forschungsgebiete: unter anderem quantitative Immunhistochemie von Neurotransmittern und neuronale Netzwerke in der Entwicklung psycho-kognitiver Hirnfunktionen. In ihren Vorträgen setzt sie sich kritisch mit der Wirkung digitaler Medien auf das Gehirn auseinander. Der Text entstand unter Mitwirkung von Ingo Leipner.
Das Original finden Sie unter folgendem Link:
https://gartenderphantasie.de/ein-bauherr-beginnt-auch-nicht-mit-dem-dach/